Die Kinder der
Child Survivors1
Natan P. F. Kellermann
„Diese Bilder […] dringen auf erstickende
Weise in mich ein. Wie zum Beispiel morgens mit all den Autos und Abgasen, dann
denke ich: ‚Nicht atmen’, und ich denke mir, dass sie so Menschen vergasen würden,
indem sie die Auspuffe in die Lastwagen voller Gefangener umleiten. Meine
Mutter ist beinahe vergast worden, müssen Sie wissen. Sie haben sie in die
Duschen geschleppt, aber herausgefunden, dass sie nicht genug Zyklon B hatten.
Sie haben also versagt […] noch so eine Wendung des Schicksals! Aber ich denke
daran […] ich denke zwanzig Mal am Tag daran, hundert Mal am Tag” (Gottschalk
2000).
Solch eindringliche Bilder, Holocaustassoziationen und
Panikattacken sind verbreitete Erscheinungsformen von Posttraumatischen
Belastungsstörungen (PTSD) bei Überlebenden des Holocausts. Jedoch wurden diese
Gefühle nicht von der Überlebenden des Holocausts selbst ausgedrückt, sondern
von ihrer Tochter. Diese durchlebte täglich das Holocausttrauma ihrer Mutter
und entwickelte schließlich eine ausgeprägte Angststörung. Obwohl sie selbst
viele Jahre nach dem Krieg geboren wurde, verfolgten sie die furchtbaren
Holocausterlebnisse ihrer Mutter noch mehr als ein halbes Jahrhundert später.
Sie sind sogar solch
ein bedeutender Störfaktor in ihrem Leben geworden, dass sie nicht nur sie
selbst, sondern auch ihr Verhältnis zu ihrem Mann und ihrer Tochter
beeinflussten. Auf merkwürdige Weise durchdrang der Holocaust indirekt die
Existenz der gesamten Familie. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, was als transgenerationale Traumaweitergabe (Kellermann
2001c) bekannt wurde.
Dabei handelt es sich um eine verbreitete Situation in
Familien von Überlebenden des Holocaust; sie wird in zahlreichen Publikationen
seit den 1970er Jahren beschrieben. Mittlerweile ist die professionelle
Literatur zur transgenerationalen Weitergabe von Holocausttraumata zu einem
weiten, einzigartigen psychologischen Wissensfeld von mehr als 400
Publikationen angewachsen (Kellermann 2000).
Die meisten Berichte von solchen Fällen beschreiben die
Kinder von Überlebenden, die im ersten Jahrzehnt nach dem zweiten Weltkrieg
geboren wurden, also im Baby-Boom der Jahre zwischen 1946 und 1956. Sie wurden
als Kinder von erwachsenen Überlebenden geboren, die selbst ihre eigenen
Ursprungsfamilien verloren hatten und darauf aus waren, so schnell wie möglich
eigene Familien zu gründen. Viele der Überlebenden hingegen, die im Krieg
Kinder waren (Child Survivors, überlebende Kinder), gründeten (wenn überhaupt)
erst sehr viel später eigene Familien. Ihre Kinder wurden gewöhnlich erst in
den 1960er Jahren oder noch später geboren. Über viele Jahre hinweg blieben die
Child Survivors (überlebende Kinder) fast vergessen und traten erst in den
1990er Jahren schärfer als spezielle Subgruppe hervor.
Trotz der Tatsache, dass die jüngere, zweite Generation von
Child Survivors (Kinder von Überlebenden) bereits mittleres Alter erreicht hat,
ist sie immer noch fast unsichtbar und hat erst in letzter Zeit überhaupt
professionelle Aufmerksamkeit erhalten. Aufgrund ihrer Erfahrung, mit
Child-Survivor-Eltern aufgewachsen zu sein, verdienen sie jedoch unsere
besondere professionelle Aufmerksamkeit. Obwohl sie lange nach dem Krieg
geboren wurden, kamen sie als Kinder von „Waisen-Eltern“ zur Welt, die ihre
eigenen Eltern unter schrecklichen Umständen verloren hatten. Wir können
deshalb davon ausgehen, dass einige der frühen Überlebenserfahrungen der Eltern
diese zweite Generation von Child Survivors in bestimmter Weise beeinflusst
haben. Es wäre beispielsweise interessant zu untersuchen, ob es spezifische
Unterschiede zwischen „gewöhnlichen“ Angehörigen der zweiten Generation und
Angehörigen der zweiten Generation von Child Survivors gibt – und wenn dem so
wäre, wie diese Unterschiede das Funktionieren der Letzteren als Eltern für die
dritte Generation beeinflussen.
Um diese Frage zu beantworten, muss ein weites
Forschungsgebiet berücksichtigt und einige frühere Ergebnisse auf diesem
komplexen Feld zusammengefasst werden. Ich beginne mit einem Überblick über das Child-Survivor-Syndrom
und bespreche danach kurz die Forschung zur zweiten Generation. Umfangreiche
Teile hiervon sind eine Zusammenfassung von früher veröffentlichtem Material
(Kellermann 2001a; 2001b; 2001c; 2001d).
Child Survivors
Zweifelsohne erleben Kinder und Erwachsene Krieg auf
unterschiedliche Weise. Kinder sind gleichermaßen verletzlicher und
verformbarer als Erwachsene und sind mit dem extremen Trauma des Holocaust auf
andere Weise umgegangen.
Außerdem wurden die sich entwickelnden Kinder auf
unterschiedliche Weise vom Verfolgungstrauma in Mitleidenschaft gezogen. Da sie
die Gräuel des Krieges in unterschiedlichen Stadien ihres kognitiven,
emotionalen und persönlichen Wachstums erlebten, durchlitten sie in den langen
Jahren der Gefangenschaft oder Trennung der Familien verschiedenartige
Beeinträchtigungen und Formen von Entwicklungsstillstand. Dasberg (2001, S. 22)
fasste den Haupteinfluss auf die Entwicklung der Child Survivors wie folgt
zusammen:
„1) Das Fehlen von funktionierenden
Eltern oder Vormündern, welche zunächst von Angst und Sorgen erfüllt sind, dann
entweder verschwinden, sterben oder nach der Befreiung sogar zurückkehren, dann
jedoch als veränderte Personen, und 2) das komplette Ausgeliefertsein an Fremde
in der Holocaust-Welt und danach. Die
Child Survivors sind sowohl ernstlich benachteiligte als auch gleichzeitig
traumatisierte Kinder“.
Darüber hinaus haben sie sich eine
Vielzahl von unterschiedlichen, außergewöhnlichen Überlebensstrategien
angeeignet, um extremen Verlust zu bewältigen. Es ist daher nicht
verwunderlich, ein einigermaßen komplexes posttraumatisches klinisches Bild bei
den Überlebenden des Holocausts zu finden, die zum Ende des Krieges jünger als
16 Jahre alt waren. Wie zu erwarten, hallt solch eine frühe Traumatisierung
über die gesamte Lebensdauer der Child Survivors nach und viele der frühen
Strategien werden über das ganze Leben hinweg beibehalten.
Selbstverständlich fühlen diese Child Survivors, dass sie
daran gehindert wurden, eine normale Kindheit zu haben. Als Folge dessen,
scheint es in ihnen dauerhaft ein alter ego „Kind“ zu geben, das nach
(infantiler) Bedürfnisbefriedigung sucht. Aufgrund der Umstände, in denen die
Child Survivors aufwuchsen, sind sie zu „kleinen Erwachsenen“ mit frühzeitigen
Verantwortungen geworden. Ein weiblicher Child Survivor äußerte:
„Ich hatte keine echte Kindheit.
Als Kind musste ich ein Erwachsener sein. Es war gefährlich, ein Kind zu sein.
Ich musste das Kind in mir verstecken und vorgeben, jemand anderes zu sein. Deshalb
verlangt das Kind in mir immer noch danach, anerkannt und versorgt zu werden.
Aber Leute finden es komisch, eine alte Frau zu treffen, die eigentlich noch
ein Kind ist, und so achte ich sehr darauf, dieses Geheimnis von mir nicht zu
enthüllen. Wenn ich aber von Kindern umgeben bin, merken die es sofort.“
Child Survivors sind heute zwischen 60 und 75 Jahre alt, je
nachdem, wie alt sie zum Ende des Krieges waren. Diese Population kann weiter
in drei Untergruppen unterteilt werden
·
Kleinkinder-
oder Überlebende in der frühen Kindheit, die im Krieg nicht älter als sechs
Jahre alt waren;
·
Child
Survivors, die zwischen sechs und zwölf, und
·
Jugendliche,
die zum Ende des Krieges zwischen zwölf und achtzehn Jahre alt waren.
Natürlich machte das Alter im Hinblick
auf die Entwicklungsphase, in der die Traumatisierung passierte, einen großen
Unterschied in den jeweiligen Untergruppen aus: so zum Beispiel bezüglich der
erlangten kognitiven Fähigkeit, das zu verstehen, was vor sich ging, sowie im
Hinblick auf Fixierungen in spezifischen Phasen von Vertrauen und Misstrauen,
Eigenständigkeit und Zweifel, Schuld und Identität. Deutlich ist, je jünger die
Überlebenden, desto traumatischer die Umstände und desto beeinträchtigender die
Auswirkung ihrer Kriegserlebnisse (Keilson 1979).
Diese Entwicklungsphasen deuten auch einige der Themen an,
mit denen Child Survivors ihr ganzes Leben lang ringen:
1.
gelernte
Hilflosigkeit,
2.
Verlassenwerden
und Isolation,
3.
unterbrochene
Trauer um Verlust,
4.
Identitätsprobleme,
5.
Gedächtnisverlust
und
6.
primitive
Abwehr.
Diese Charakteristika der Child Survivors
werden im Folgenden weiter diskutiert (vgl. Kestenberg/Brenner 1996).
1. Weil
Child Survivors früh im Leben gelernt haben, dass externe Kräfte, über die sie
keinerlei Einfluss hatten, ihr Schicksal bestimmten, tritt ein ausgeprägtes
Gefühl von gelernter Hilflosigkeit und eine „Opfermentalität“ auf, in der sie
sich anderen ausgeliefert fühlen. Zusätzlich wurde das Fehlen von Sicherheit,
Vorhersagbarkeit und Vertrauen zusammen mit überwältigender Angst,
Machtlosigkeit und Kontrollverlust zu einer dauerhaften Lernerfahrung, die ihr
Gefühl der Unabhängigkeit und Autonomie lebenslang einschränkte.
2. Ihnen
wohnt ein Gefühl des Verlassenseins inne, einer existentiellen Einsamkeit oder
eines vagen Gefühls des Nicht-Gewolltseins, welches einige Child Survivors dazu
veranlasst, ständig zu versuchen, sich selbst zu beweisen. Andere spüren ein
Gefühl des Abgetrenntseins von der Welt. Diese Child Survivors fühlen immer
noch, dass sie sich versteckt halten müssen und dass sie irgendwie von anderen
und von sich selbst isoliert sind. Dies wiederum verstärkt ihr selbst
auferlegtes Schweigen und die Repression ihres Seelenlebens bis sie fühlen,
dass die Außenwelt sie so akzeptiert, wie sie wirklich sind. Widerstreitende
Gefühle von Schuld über das Verlassen der eigenen Eltern und Geschwister werden
manchmal mit Wut darüber vermischt, nicht richtig beschützt worden zu sein.
3. Der
mehrfache und frühe Verlust von Eltern und Familie verfolgt sie weiterhin durch
ihr Leben. Kinder wurden auf verschiedene schreckliche Arten von ihren Eltern
und Geschwistern getrennt. Sie wurden an Pflegeeltern oder Klöster übergeben
und mit falschen Namen genannt. Sie wurden aus Zügen gestoßen oder auf
Dachböden, in Kellern und Wäldern zurückgelassen und versteckt. Sie wurden in
Züge gesetzt und in ferne Länder geschickt oder wurden in Konzentrationslagern
brutal von ihren Eltern getrennt. Nur selten war es möglich, sich zu
verabschieden und angemessene Formen von Abschied und Trauer zuzulassen.
Unterbrochener Kummer mit häufiger und lang anhaltender Tendenz, den
überwältigenden Verlust zu leugnen, bleibt daher für viele Child Survivors ein
lebenslanger Kampf. Infolgedessen können normativeTrennungen im späteren Leben ebenfalls sehr
aufreibend sein und zwischenmenschliche Beziehungen werden manchmal
oberflächlich gehalten, um eine zukünftige schmerzhafte Trennung zu vermeiden.
4. Bei
Child Survivors, die als Kinder gezwungen wurden, eine falsche Identität
anzunehmen, um im Krieg zu überleben treten häufig Identitätsprobleme auf. Über
einen signifikanten Zeitraum ihrer Jugend hinweg waren solche Kinder einer
radikal anderen Sozialisationserfahrung ausgesetzt, welche zumindest eine
Identitätsverwirrung, wenn nicht gar eine totale Repression ihres früheren
Ich-Gefühls zur Folge hatte. In einigen der letzteren Fälle fiel es
Jugendlichen sehr schwer, nach dem Krieg zu ihren früheren Familien
zurückzukehren und ihre ursprünglichen Namen wieder anzunehmen.
5. In
der inneren Welt der erwachsenen Child Survivors hinterlässt Gedächtnisverlust
eine bleibende Leere. Das Fehlen jeglicher Kindheitserinnerungen verursacht
einen Bruch im natürlichen Fluss des Lebenslaufs. Kleinkind-Überlebende suchen
daher kontinuierlich mit Eifer nach etwas in oder außerhalb von ihnen, das
ihnen eine Spur der Vergangenheit (und ihrer Eltern) wiederbringen könnte.
Hierbei suchen sie möglicherweise nach pre-verbalen Zeichen, wie einem
vertrauten Geruch, einem Geräusch oder einem Bild, das ein Fragment ihrer
Mütter und Väter und ursprünglichen Zuhause wachrufen könnte, um somit etwas
aus ihrer verlorenen Kindheit wieder zu erleben – und zu fühlen. Ein Child
Survivor, der von seinen Eltern, von denen er keinerlei Erinnerungen hat,
getrennt wurde, bevor er fünf Jahre alt war, erinnert sich aus seiner Kindheit
einzig daran, wie er umgeben von Soldaten im Schlamm lief. Jemand hielt seine
Hand, aber er weiß nicht, wer es war. Er erinnert sich nur, dass er hinfiel und
dass jemand ihn aufhob. Nach mehr als 50 Jahren fühlt er immer noch, dass er
tief im Schlamm läuft und jemanden braucht, der seine Hand hält und vorangeht.
6. Schließlich
wurden als Folge von überwältigendem Schmerz, Machtlosigkeit und Isolation oft
primitive Abwehrformen entwickelt, um emotional zu überleben. Diese Abwehr
diente dazu, ihnen zu helfen, als Kinder nichts zu fühlen, und vor allem ihre
Gefühle nicht zu äußern, denn „Kinder die weinten, starben“. Wenn die
Wahrnehmung der Realität jedoch zu bedrohlich und überwältigend wurde,
hinterließ „sprachloser Terror” Erfahrungen jenseits von Worten. So wurden
Affekte oft dissoziiert und komplett vergessen. Im Erwachsenenalter
manifestiert sich dies manchmal in einer Art von emotionaler Abkapselung,
psychischer Betäubung der Ansprechbarkeit und totaler Amnesie der Vergangenheit.
Weniger dramatische Überlebensstrategien, die auch im Erwachsenenalter
andauerten, waren zum Beispiel: nicht gesehen werden, nicht auffallen, still,
gehorsam und „brav” zu sein. Ein 13-jähriges Mädchen sitzt auf einem
Fenstersims, scheinbar von der Außenwelt losgelöst, nach einem Pogrom, bei dem
ihr Vater mitgenommen und auf der Polizeistation geschlagen wurde. Er wurde
später erschossen und in ein Massengrab geworfen und sie sah ihn nie wieder.
Wie abgekapselt von jeglichem Affekt, las sie ein Buch und verschloss in sich
all ihre überwältigenden Emotionen. Die emotionale Entwicklung ihres Lebens
hatte jedoch in jenem Moment aufgehört. Sie hat nie eine eigene Familie
gegründet und jetzt, Ende 60, ist es so, als ob sie immer noch auf dem Fenstersims
sitzt und auf die Rückkehr ihres Vaters wartet.
Während sich Child Survivors in ihrem Alltagsleben oft (zu?)
gut anpassen und gut funktionieren, bleiben sie verletzliche Menschen, die
einem hohen Risiko für emotionale Instabilität und Belastung ausgesetzt sind
(Dasberg 1987). Einige sind obsessiv mit den unantastbaren Erinnerungen an die
Vergangenheit beschäftigt, wohingegen andere sie komplett vermeiden. Wenn sie
aufgefordert werden, mit wiederkehrenden Stresssituationen umzugehen, neigen
sie dazu, die schmerzhaften Momente von Trennung und Verlust aus der
Vergangenheit erneut zu durchleben, und leiden dann unter Phasen von
dysfunktionalem Verhalten, erhöhter Angst und Depression.
Valent (1994) verglich
Child Survivors des Holocausts mit anderen traumatisierten Kindern und fand
heraus, dass das Child-Survivor-Syndrom eine diverse Menge von Charakteristika
aufweist. Das klinische Bild des Child Survivors des Holocausts scheint in
vielerlei Hinsicht mit dem übereinzustimmen, was Judith Herman (1992) als
„komplexes PTSD“ bezeichnet hat. Dies wiederum hebt hervor, dass die Person
über einen langen Zeitraum eine Reihe von traumatischen Erfahrungen durchlitten
hat. Typischerweise
manifestiert sich Entwicklungsstillstand in jeder dieser frühen Phasen in anderen
Formen von Persönlichkeitsstörungen, wobei die Persönlichkeitsstruktur des
Erwachsenen von den unerfüllten Bedürfnissen in der Vergangenheit des
traumatisierten Kindes dominiert wird. Misstrauen ist hier oft eine zusätzliche
Beziehungskomponente.
Kontrollierte empirische Forschung im Bereich der Child
Survivors wurde lange Zeit nur selten durchgeführt. Eine relativ neue Studie
von Cohen, Brom und Dasberg (2001) benutzte ein kontrolliertes randomisiertes
Doppelblinddesign, um Symptome und Bewältigungsweisen von Child Survivors 50
Jahre nach dem Holocaust zu untersuchen. Die Ergebnisse wiesen bei den Child
Survivors auf ein – im Vergleich
zur Kontrollgruppe – erhöhtes Niveau von psychosozialen Symptomen, auf ein
hohes Niveau von PTSD-Symptomen (Intrusions-/Vermeidungstendenzen) und auf eine
hauptsächlich auf Versagensangst basierte Leistungsmotivation hin.
Erstaunlicherweise sahen Child Survivors die Welt positiver als die
Kontrollgruppe, was man jedoch auch als ein größeres Bedürfnis verstehen kann,
den Mangel an Sicherheit, der in der Kindheit durchlitten wurde, mit dem
Kreieren einer sinnvollen Welt inmitten der chaotischen Realität zu
kompensieren.
Von einer psychotherapeutischen Perspektive beobachteten
Dasberg, Bartura und Amit (2001), dass alternde Child Survivors, die an
Gruppentherapien teilnahmen, einer Doppelaufgabe gegenüberstehen: Zum einen
sind die Belastungen des Alterns und ihrer psychobiologischen Entwicklung zu
bewältigen, zum anderen das erneute Auftreten der traumatischen Erinnerungen
und Verluste der fast vergessenen, vernachlässigten, geleugneten, unterdrückten
oder dissoziierten Kindheitserinnerungen. Zusätzlich teilten diese Child
Survivors auch unterschiedliche Sorgen um ihre eigenen Kinder und um Probleme
in der Kindererziehung, die offensichtlich von großer Bedeutung waren.
Holocaust-Überlebende
als Eltern
Weil offensichtlich ist, dass all die oben beschriebenen
Charakteristika der Child Survivors einen schlechten Start für die schwierige
Aufgabe der Kindererziehung bedeuten, können wir annehmen, dass sich die frühe
schwere Traumatisierung der Child Survivors ebenfalls nachteilig auf ihre
Fähigkeit der Kindererziehung auswirkte. Wenn die Eltern zum Beispiel im Krieg
versteckt wurden, nehmen wir an, dass auch ihre Kinder etwas von dieser
Erfahrung in sich aufnehmen würden. Sie wären die Kinder (children) der „hidden
children“. Wenn die Eltern verlassen wurden, würden ihre Kinder ebenfalls
Ängste in Bindungsfragen haben. Oder, allgemeiner ausgedrückt, weil einige
Child Survivors sich so hilflos und einsam fühlten, übertrugen sie auf
bestimmte Weise diese Gefühle auf ihre eigenen Söhne und Töchter und ließen
diese sich dadurch wiederum genauso machtlos fühlen. Außerdem können wir
folgern, dass, weil einige dieser Ängste so überwältigend sind, viele Child
Survivors sich dazu entschieden, erst gar keine Kinder zu bekommen. Sie
schienen genug Probleme zu haben, sich um sich selbst zu kümmern und waren
daher außerstande, sich um andere zu kümmern. Einige der mehr schizoiden Child
Survivors entschlossen sich, gar nicht zu heiraten und allein, in Teilisolation
zu leben. Bevor ich diese spezifischen Fragen zur Child-Survivor-Elternschaft
weiter diskutiere, werde ich einige Forschungsergebnisse zu
Erziehungsfähigkeiten von Holocaust-Überlebenden im Allgemeinen vorstellen.
Generell wurden Holocaust-Überlebende als Eltern oft als zu
ängstlich, deprimiert und mit Trauern beschäftigt angesehen, um ein angemessen
entwicklungsförderndes Umfeld für ihre Kinder schaffen zu können. Folglich
wurde angenommen, dass solche Mütter und Väter ihre emotionale Belastung an
ihre Söhne und Töchter weitergeben und so Probleme in der Kindererziehung mit
Bindungen und Trennungen hervorbringen. Diese Literatur basiert auf
Erzählungen, auf deskriptiven Einzelfallberichten oder auf empirischen Studien
mit methodologischen Beschränkungen. Naturgemäß macht das die Verallgemeinerung
ihrer Ergebnisse sehr problematisch.
Kellermann (2001d) versuchte zu erforschen, ob
Holocaust-Überlebende als Eltern im Vergleich zu anderen Eltern wirklich so
anders in ihren Erziehungsmethoden waren, wie die frühere Literatur das
behauptete. Entgegen dieser frühen Annahmen hat Kellermanns Studie gezeigt,
dass israelische Kinder von Holocaust-Überlebenden ihre Eltern im Allgemeinen
in einem positiven Licht sahen und dass Unterschiede in Erziehungsmethoden
zwischen Holocaust-Überlebenden und anderen israelischen Eltern bezüglich solch
wichtiger elterlicher Verhaltensweisen wie Zuneigung, Bestrafung und
Überfürsorglichkeit im Gesamtbild eher klein erschienen. Trotz ihrer Zuwendung
und ihres meist erfolgreichen Erziehungsverhaltens wurden Holocaust-Überlebende
als Eltern jedoch als außerstande angesehen, zu verhindern, dass der Holocaust
einen signifikanten Einfluss auf ihre Nachkommen hat. Den Ergebnissen dieser
Studie zufolge hatte das vergangene Trauma der Eltern weiterhin einen starken
Einfluss auf das Leben der Nachkommen, die fühlten, dass sie den inneren
Schmerz ihrer Eltern in sich selbst aufgenommen hatten. Es war, als ob sie eine
Art emotionale Belastung ihrer Eltern auf sich genommen hatten, die einen
starken Einfluss auf ihr eigenes Leben hatte.
Beschrieben als „Rollenumkehrung mit den Eltern“, als
„Verstrickung“, „Eltern-Kind Rollendiffusion“ oder als
„elterliches/parentifiziertes Kind“ scheint dieser „Übermittlungs-Faktor“ eines
der Charakteristika im Eltern-Kind-Verhältnis dieser Familien zu sein.
Vermutlich sind diese Charakteristika auch in der klinischen Population der
zweiten Generation der Child Survivors verbreitet. Bevor ich die spezifischen
Erscheinungsformen dieser zweiten Generation der Child Survivors diskutiere,
muss jedoch einiges frühes empirisches Material über die Psychopathologie der
zweiten Generation behandelt werden.
Psychopathologie
der zweiten Generation
Über viele Jahre war der transgenerationale Effekt des
Holocausts auf die Nachkommen Gegenstand erheblicher Kontroversen. Die
Hauptfrage befasste sich mit der Präsenz oder Absenz einer spezifischen
Psychopathologie bei der zweiten Generation. Psychotherapeuten haben wiederholt
von unterschiedlichen charakteristischen Anzeichen von Belastung berichtet,
während die Forschung keine signifikanten Unterschiede zwischen den Nachkommen
und der Vergleichsgruppe finden konnte.
Mit dem Bemühen, diese Streitfrage beizulegen, hat
Kellermann (2001b) einen ausführlichen Überblick der Forschungsliteratur zur
Psychopathologie der Holocaust-Überlebenden angefertigt. Dieser Überblick legte
eine Zusammenfassung der Ergebnisse von 35 vergleichenden Studien über den
Geisteszustand der Nachkommen von Holocaust Überlebenden vor, die zwischen 1973
und 1999 veröffentlicht wurden. Der Überblick zeigte recht beweiskräftig, dass
die nicht-klinische Population der Kinder von Holocaust-Überlebenden keine
Anzeichen von höherer Psychopathologie aufwiesen als andere. Tatsächlich
neigten die Kinder von Holocaust-Überlebenden im Sinne von manifester
Psychopathologie dazu, eher gut zu funktionieren. Die Unterschiede im
Geisteszustand zwischen Holocaust-Nachkommen und anderen Menschen waren den meisten
Forschungen nach gering. Einige neue Ergebnisse, die auf Bindungstheorie
basierten, wurden von Bar-On et al. (1998), van Ijzendoorn et al. (2003) und
Sagi-Schwartz et al. (2003) vorgestellt.
Die klinische Population von Nachkommen neigte jedoch zu einem
spezifischen „psychologischen Profil“, das folgende Charakteristika aufwies:
Psychologisches
Profil der zweiten Generation
1. Prädisposition zu
PTSD
2. Schwierigkeiten mit
Trennung – Individuation
3. widersprüchliche
Mischung aus Resilienz und Vulnerabilität im Umgang mit Stress
4. Persönlichkeitsstörung
oder neurotische Konflikte
5. Phasen von Angst und
Depression in Krisenzeiten
6. mehr
oder weniger beeinträchtigtes berufliches, soziales und emotionales
Funktionieren
Diese klinische Population wies in vielen der rezensierten
Studien Anzeichen von psychologischer Belastung auf. Zum Beispiel fanden Sigal
et al. (1973) Anzeichen von mehr disruptivem Verhalten und übermäßiger
Abhängigkeit; deGraaf (1975) fand mehr Persönlichkeitsstörungen und Konflikte bei
Soldaten; Solomon et al. (1988) fanden heraus, dass solche Soldaten eher PTSD
entwickelten; Zilberfein (1996) fand, dass Nachkommen weniger befriedigende
Beziehungen hatten und ängstlicher waren; und Yehuda et al. (1998) fanden
heraus, dass Nachkommen von Eltern mit PTSD eher dazu neigten, selbst PTSD zu
entwickeln. Diese Studien demonstrierten, dass klinische Populationen von
Kindern der Holocaust-Überlebenden, im Vergleich zu anderen Menschen mit
emotionalen Problemen, einige bestimmte Charakteristika aufweisen, die sich
mehr oder weniger auf Schwierigkeiten der Stressbewältigung konzentrieren
(Baron et al. 1997), sowie auf eine höhere Anfälligkeit für PTSD.
Interessanterweise stimmen diese empirischen Studien von klinischen
Populationen weitgehend mit den zahlreichen deskriptiven Studien überein, die
spezifische Manifestationen (und erhöhte Anteile) von psychiatrischen Symptomen
bei den Kindern von Überlebenden im Vergleich zu anderen Populationen
aufzeigten.
Die frühe Differenzierung zwischen klinischen und
nicht-klinischen Populationen von Nachkommen hat die vormals bestehende
Unvereinbarkeit zwischen Klinikern und Forschern weitgehend aufgehoben. Die
alte Unterteilung „in zwei ‚Lager’, von denen, die die ungünstigen Auswirkungen
des Holocausts beschrieben, und denen, die versäumten, diese schädlichen
Auswirkungen zu beachten” (Yehuda et al. 1998, S. 640), hat somit
viel an Relevanz verloren. Kliniker präsentierten Daten über die negativen
Nachwirkungen in klinischen Stichproben unter Nachkommen, während Forscher das
Fehlen der Auswirkung bei der
Untersuchung einer allgemeinen, nicht-klinischen Population zeigten (Bar-On
1996, S. 231). Aber auch wenn sich die zweite Generation in ihrer
Psychopathologie im Allgemeinen nicht von anderen unterscheidet, wird sich ihre
latente Verletzbarkeit doch stressbedingt manifestieren (Dasberg 1987).
Es scheint also, als
erlebe die zweite Generation eine widersprüchliche Mischung aus Vulnerabilität
und Resilienz, die ihren Holocaust-Überlebenden Eltern sehr ähnelt. Hervorragendes
Funktionieren im beruflichen-, sozialen- und emotionalen Umfeld unter
gewöhnlichen Bedingungen kann in Krisenzeiten von Phasen der Angst und
Depression mit einem ausgeprägten „Holocaust-Charakter“ unterbrochen werden.
Solche Anzeichen von spezifischen Verletzbarkeiten bei den Nachkommen von
Holocaust-Überlebenden wurden in einigen Studien des letzten Jahrzehnts
gefunden. Seit Ende der 1990er Jahre ist ein Wiederaufleben von Studien
festzustellen, die versuchen, diejenigen Faktoren, die die Anfälligkeit für
PTSD bei Trauma-Überlebenden und ihren Kindern erhöhen, zu identifizieren
(z. B. Sigal 1998; Bower 1996).
Erschwerende und
Abmildernde Faktoren
Welche anderen
Erklärungen können für die Tatsache angeführt werden, dass viele Kinder von
Holocaust-Überlebenden sich gut angepasst haben, obwohl sie in dysfunktionalen
Familien aufgewachsen sind, in denen ein großes Risiko für die Entstehung von
Psychopathologie vorhanden war? Was erhöht oder verringert die
Wahrscheinlichkeit für die Herausbildung von Psychopathologie infolge
elterlicher Traumatisierung?
Zukünftige Studien
sollten sich nicht weiter auf die Erforschung von Psychopathologie in dieser
Population beschränken. Stattdessen sollten sie auch demographische Faktoren
identifizieren, die jenseits von individuellen Unterschieden und genetischer
Ausstattung die Wahrscheinlichkeit erhöhen, infolge von elterlicher
Traumatisierung Psychopathologie zu entwickeln. Der
Literatur zufolge scheint die klinische Untergruppe der besonders gefährdeten
Nachkommen einige oder alle der folgenden Charakteristika gemein zu haben:
Erschwerende Faktoren
1. Der
Nachkomme wurde bald nach dem Trauma der Eltern geboren.
2. Der
Nachkomme waren das einzige oder das erstgeborene Kind.
3. Beide
Elternteile waren Holocaust-Überlebende.
4. Der
Nachkomme waren „Ersatz-Kind“ für ein verstorbenes Kind.
5. Die
Eltern durchlitten außerordentliche psychische Not und erheblichen Verlust und
waren infolgedessen stark gestört.
6. Zwischen
Eltern und Kind gab es eine symbiotische Beziehung; Familienbeziehungen waren
von Verstrickung charakterisiert.
7. Über
das Trauma wurde zu wenig oder zu viel gesprochen.
Man kann annehmen, dass
diese Faktoren das Risiko erhöhen, dass ein Kind unbewusst das Trauma seiner
Eltern in sich aufnimmt und infolgedessen seelisch belastet ist. Es wird die
Aufgabe zukünftiger Forschung sein, diese Faktoren genauer von einander
abzugrenzen.
Es kann auch angenommen
werden, dass außer den oben genannten auch einige andere Umstände den Prozess
der Traumaweitergabe beeinflussen. Keinan, Mikulincer und Rybnicki (1988) zum Beispiel legen
nahe, dass einige Kinder von Holocaust-Überlebenden einzigartige
Bewältigungsmechanismen entwickelt haben, die es ihnen ermöglichen, mit der
psychologischen Belastung ihrer Eltern besser umzugehen. Auch wenn die Eltern
schwer traumatisiert waren, haben diese Kinder aufgrund von bestimmten
„abmildernden Faktoren“, die ihnen geholfen haben, dem Stress trotz allem
standzuhalten, das Trauma möglicherweise nicht in sich aufgenommen.
Abmildernde Faktoren
1. offene
Kommunikation
2. erweiterte
Gemeinschaft
3. eine
klare jüdische Identität
4. reparative
Sozialisation in Schul- oder Jugendbewegung
5. stabilere
Eltern
6. erfolgreicher
Individuations-Abgrenzungsprozess
7. erfolgreiche
Abgrenzung in der Pubertät
Laut Sorscher und Cohen (1997, S. 493)
„haben zahlreiche Studien über diese
Kinder von einem weiten Spektrum der Reaktionen auf den Holocaust berichtet,
die sowohl abträglich als auch adaptiv waren. Die Vielfalt der Reaktionen deutet
auf die Präsenz von ausgleichenden Faktoren hin, die die transgenerationale
Auswirkung des Traumas abmildern können. Besonders der elterliche
Kommunikationsstil wurde als entscheidende Determinante in der Anpassung von
Familien identifiziert, die von Katastrophen befallen sind“.
Ähnliches beobachteten auch Axelrod et
al. (1980): Ein großer Unterschied zwischen gesunden Kindern und
hospitalisierten Patienten scheint zu sein, dass die Kinder in einer
„nicht-beängstigenden“ Weise zu Hause recht offene Diskussionen über die
Lagererfahrungen der Eltern erlebten. Diese besser angepassten Familien waren
alles andere als sozial isoliert, dafür aber in Organisationen von Überlebenden
engagiert, die möglicherweise Unterstützung und ein Gefühl der erweiterten Gemeinschaft
boten, das der eng verbundenen Familie der Holocaust-Überlebenden eine
Perspektive gab. Die Annahme einer jüdischen Identität oder einer spezifischen
Immigrantenidentität in solch mitfühlenden Gemeinschaften sowie das Ausbleiben
erneuter antisemitischer Feindseligkeiten mögen ebenfalls eine abmildernde
Rolle gespielt haben.
Darüber hinaus mögen reparative Zeiträume in der Schule, in
Jugendbewegungen, Sommer-Ferienlagern und anderen sozialen
Unterstützungssystemen (Heller 1982) den Nachkommen geholfen haben, sich von
ihren Eltern abzugrenzen und einen Teil ihres abträglichen Einflusses zu
mildern. In der Tat wurde für viele Angehörige der zweiten Generation die Phase
der Adoleszenz eine Zeit der altersgerechten Loslösung und Individuation, die
ihnen half, sich von zu Hause und von dem, was dies repräsentierte, abzulösen.
Die Wichtigkeit solcher „aushäusigen Sozialisation“
(„outside-the-home-socialization“) in den Peergroups der Kindheit und Jugend
wurde von Harris (1995, S. 458) erheblich hervorgehoben:
„Viele Psychologen haben über die
Robustheit von Entwicklung gestaunt; trotz der enormen Unterschiede wie ihre
Eltern sie behandeln, werden die meisten Kinder sich normal entwickeln […]
Kinder entwickeln sich gewöhnlich normal, weil das Umfeld, das wichtige und
nachhaltige Auswirkungen hat, mit nur wenigen Unterschieden in jeder
Gesellschaft auffindbar ist: die Kinderspielgruppe”.
Man kann deshalb davon ausgehen, dass
diejenigen Kinder von Holocaust-Überlebenden, die in ihrer Kindheit nicht die
Erfahrung solcher „nicht-familiären” Unterstützung machen konnten, mehr als
andere von den abträglichen Einflüssen der elterlichen Traumatisierung
betroffen waren. Sie sind stärker gefährdet, das Trauma ihrer Eltern zu
übernehmen und in seelische Not zu geraten.
Kinder der Child
Survivors
Wir sind nun besser vorbereitet, die Situation der zweiten
Generation der Child Survivors zu evaluieren. Nach einem ersten Überblick über
die Charakteristika der Child Survivors und der Anwendung von dem, was wir über
Holocaust-Überlebende als Eltern wissen, sowie unter Berücksichtigung der
Psychopathologie der zweiten Generation mit ihren erschwerenden und
abmildernden Faktoren können wir nun kombiniert mit unserer eigenen klinischen
Erfahrung erste Beobachtungen anstellen.
Während es einige Studien gibt, die die Enkelkinder von
Holocaust-Überlebenden untersuchen – die dritte Generation (Bachar et al. 1994)
– gibt es, soweit ich weiß, keine spezifischen empirischen Studien, die die
Kinder von Child Survivors untersuchen. Auch habe ich keine Studien gefunden,
die die älteren und jüngeren Angehörigen der zweiten Generation verglichen.
Aufgrund der Vielzahl der beteiligten Variablen wäre eine solche Studie wohl
schwer zu gestalten. Eine qualitative Studie mit Interviews wäre möglicherweise
ein guter Ausgangspunkt, um die Charakteristika dieser Population abzubilden.
Die folgenden Beobachtungen könnten einen ersten Überblick hierfür bieten.
Dieser Überblick basiert auf klinischen Eindrücken von mehr oder weniger
gestörten Child Survivors und ihren Nachkommen der zweiten Generation als
Klienten in individueller Therapie und Gruppentherapie bei AMCHA und auf
Diskussionen mit dem Personal von AMCHA in Israel (http://www.amcha.de), jedoch
kann er nicht auf eine nicht-klinische Population verallgemeinert werden.
Die offensichtlichste und deutlichste Beobachtung scheint zu
sein, dass diese zweite Generation von Child Survivors (Kinder von
Überlebenden) die Rolle übernahmen, Eltern für ihre (zuvor verwaisten) Eltern
zu werden. Dies war natürlich keine einfache Aufgabe, weil es sie de Facto
ebenfalls elternlos machte. Eine Klientin sagte: „Ich musste mich um meine
Mutter kümmern, seit ich ein junges Mädchen war, weil sie unfähig war, sich um
sich selbst zu kümmern. Ich hab alles für sie und für die Familie gemacht und
in Wirklichkeit war ich die einzige anwesende Mutter für alle.“ Diese Klientin
konnte nicht heiraten und eine eigene Familie gründen, und nach dem Tod ihrer
Mutter fühlte sie – zusammen mit all den Verbitterungen und Schuldgefühlen,
keine ausreichend gute Mutter (für ihre Mutter) gewesen sein zu können – ein
seltsames Gefühl der Erleichterung. Dies ist vermutlich eine weiter verbreitete
Situation, als wir erwarten würden, weil solche Child-Survivor-Mütter so
überaus anspruchsvoll gegenüber ihren Kindern werden, dass diese in relativer
Einsamkeit leben und selten nach Hilfe fragen.
Ein trauriger Aspekt von solchem Elternverhalten ist, dass
diese Eltern oft die Kindheit, die sie selbst hatten, mit der Kindheit ihrer
eigenen Kinder (und sogar Enkelkinder) vergleichen. „Ich hatte diese Sachen
nie“, mögen sie vielleicht sagen und fahren dann fort, sich über die verwöhnten
Kinder von heute zu beschweren. Im Geheimen äußern solche
Child-Survivor-Großmütter sogar Gefühle der Eifersucht gegenüber ihren
Enkelkindern.
Als Antwort auf solch anspruchvolles Verhalten von
Child-Survivor-Eltern nehmen viele Angehörige der zweiten Generation unbewusst
das Leiden ihrer Eltern in sich auf, minimieren ihr eigenes Leiden im Vergleich
zu dem ihrer Eltern und versuchen unentwegt eine angemessene Distanz oder Nähe
zu finden, was fast unmöglich ist. Es wird immer Beschwerden geben, dass man
entweder zu nahe oder zu weit entfernt ist und nichts ist „gut genug“. Eine
solche Mutter sagte zu ihrer Tochter: „Du bist schlimmer als die Nazis! Du
bringst mich noch frühzeitig ins Grab!“ Einige solcher Angehörigen der zweiten
Generation der Child Survivors entschließen sich, in ein anderes Land
auszuwandern, um ihr eigenes Leben anzufangen, und andere wiederum bleiben ihr
Leben lang in denselben Wohnungen wohnen. Es gibt sehr wenig Verständnis bei
Child-Survivor-Eltern für das Bedürfnis ihrer Kinder nach Loslösung und
Individuation, weil sie selbst oft unter der gänzlichen Abwesenheit ihrer
Eltern gelitten haben. Wenn emotionale und geistige Probleme auftreten, sind
diese bei den ‚Jüngeren’ oft schwerwiegender, als in den entsprechenden
‚älteren’ Gruppen der zweiten Generation.
Zusätzlich zu den oben genannten Charakteristika teilten
AMCHA-Therapeuten mit, dass solche Angehörige der zweiten Generation der Child
Survivors, die unter oben beschriebenen Umständen aufwachsen, oft
Schwierigkeiten mit körperlicher Berührung haben und dass die Kommunikation
zwischen den Familienmitgliedern oft sehr kompliziert ist. Es gibt häufig
Missverständnisse und lang andauernde Konflikte, die die Familienatmosphäre
unerträglich machen. Einige Familientherapeuten, die konsultiert wurden, um
Ordnung in diese verwickelten Beziehungen zu bringen, meinten, dass es die
beste Lösung sei, die Parteien auf eine Weise zu trennen, die die
Individualität einer jeden Person respektiert.
Folgerungen
Kellermann (2001c) hat vorgeschlagen, Traumaweitergabe in
einem breiteren und integrativen theoretischen Rahmen zu verstehen. Eine solche
Sichtweise muss das komplexe Wechselspiel zwischen den verschiedenen Ebenen von
transgenerationalem Einfluss anerkennen. Dies legt nahe, dass Traumaweitergabe
durch einen Komplex von vielfach in Beziehung stehenden Faktoren verursacht
wird, einschließlich biologischer Prädisposition, individueller
Entwicklungsgeschichte, familiärer Einflüsse und sozialer Situation. Man kann
Traumaweitergabe somit als ein Phänomen erklären, das von einem oder allen
psychodynamischen, soziokulturellen, familiensystemischen und biologischen
Faktoren sowie von einer „ökologischen“ Kombination aller Faktoren beeinflusst
wird.
Eine solche integrative Perspektive auf Traumaweitergabe
erklärt ein spezifisches Symptom in einem Kind von Child Survivors als ein
durch eine Vielzahl von Einflüssen hervorgebrachtes Symptom. Die Holocaust
Bilder, von denen das Kind der Child Survivors am Anfang dieses Artikels
berichtet, können beispielsweise zuerst entsprechend der psychoanalytischen
Theorie als Erscheinungsform der verdrängten, unbewussten Ängste der Eltern
interpretiert werden: Das Kind erlebt, was die Eltern selbst nicht spüren und
ausdrücken können. Zweitens kann man die Bilder soziologisch auf eine
spezifische Art von Erziehung zurückführen: Das Kind reagiert auf die in
schädigendem Erziehungsverhalten indirekt ausgedrückten Ängste. Der Theorie von
Familiensystemen zufolge kann das Phänomen drittens das Ergebnis von
Verstrickung und stillschweigender Kommunikation sein: Das Kind ist in einer
geschlossenen Umgebung gefangen, in der die Schatten der Vergangenheit
allgegenwärtig sind. Die biologische Theorie lehrt, dass die Angststörung der
Eltern biologisch auf das Kind übertragen werden kann und dass dieses dadurch
auch stressanfälliger wird.
Literatur
Axelrod, S., Schnipper, O.L., Rau, J.H. (1980): Hospitalised
offspring of Holocaust survivors: Problems and dynamics. Bulletin of the
Menninger Clinic, 44: 1–14.
Bachar E., Cale M., Eisenberg J., Dasberg H. (1994):
Aggression expression in grandchildren of Holocaust survivors: A comparative
study. Israel Journal of Psychiatry, 31: 41–47.
Baron L, Eisman H,
Scuello, M, Veyzer, A Lieberman M. (1996): Stress resilience, locus of control,
and religion in children of Holocaust victims. Journal of Psychology, 130: 513–525.
Bar-On D. (1996):
Studying the transgenerational after-effects of the Holocaust in Israel.
Journal of Personal Interpersonal Loss, 1: 215–247.
Bar-On, D., Eland, J., Kleber, R. J., Krell, R., Moore, Y.,
Sagi, A., Soriano, E., Suedfeld, P., Van der Velden, P. G., Van IJzendoorn, M. H.
(1998): Multigenerational perspectives an coping with the Holocaust experience:
An attachment perspective for understanding the developmental sequelae of
trauma across generations. International
Journal of Behavioral Development, 22: 315–338.
Bower, B. (1996): Trauma syndrome transverses generations.
Science News, 149(20): 310–311.
Cohen, M., Brom, D., Dasberg, H. (2001): Child survivors of
the Holocaust: Symptoms and coping after fifty years. Israel Journal of
Psychiatry & Related Sciences, 38(1): 3–12.
Dasberg H. (1987): Psychological distress of Holocaust
survivors and offspring in Israel; forty years later. Israel Journal of
Psychiatry Related & Sciences, 24: 245–256.
Dasberg, H., Bartura, J., Amit, Y. (2001): Narrative Group
Therapy with Aging Child Survivors of the Holocaust. Israel Journal of
Psychiatry & Related Sciences, 39(1): 27–35.
Dasberg, H. (2001): Adult Child Survivor Syndrome: On
Deprived Childhoods of Aging Holocaust Survivors. Israel Journal of Psychiatry
& Related Sciences, 38(1): 13–26.
Gottschalk, S. (2000): Reli(e)ving The Past: Emotion Work in
The Holocaust’s Second Generation. Published on the web: http://www.unlv.edu/Faculty/gottschalk/SecondGen.htm
deGraaf Th.K. (1975):
Pathological patterns of identification in families of survivors of the
Holocaust. Israel Annals of Psychiatry Related Sciences, 13: 335–363.
Harris, J.R. (1995): Where is the child's environment? A
Group Socialisation Theory of development. Psychological Review, 102(3):
458–489.
Heller, D. (1982): Themes of culture and ancestry among
children of concentration camp survivors. Psychiatry, 45: 247–261.
Herman, J. (1992): Trauma and Recovery. New
York: Basic Books.
Keilson, H. (1979): Sequentielle
Traumatiesierung bei Kindern (in German) Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag.
(English Edition 1992).
Keinan, G., Mikulincer, M., Rybnicki, A. (1988): Perception
of self and parents by second-generation Holocaust survivors. Behavioural
Medicine, 14: 6–12.
Kellermann, N.P.F. (2000): Second generation bibliography. Amcha.
Also available at: http://www.judymeschel.com/coshpsych.htm.
Kellermann, Natan P.F. (2001a): The long-term psychological
effects and treatment of Holocaust trauma. Journal of Loss and Trauma, 6:
197–218.
Kellermann, Natan P.F. (2001b): Psychopathology in children
of Holocaust Survivors: A Review of the Research Literature, Israel Journal of
Psychiatry, 38(1): 36–46.
Kellermann, Natan P.F. (2001c): Transmission of Holocaust
trauma – An integrative view. Psychiatry - Interpersonal and Biological Processes,
64(3): 256–267.
Kellermann, Natan P.F. (2001d): Perceived parental rearing
behavior in Children of Holocaust Survivors. Israel Journal of Psychiatry,
38(1): 58–68.
Kestenberg, J.S., Brenner, I. (1996): The last
witness: The child survivor of the Holocaust. Washington, D.C.: American
Psychiatric Press.
Sagi-Schwartz, A., van
IJzendoorn, M.H., Grossmann, K.E., Joels, T. Grossmann, K., Scharf, M., Koren-Karie, N., Alkalay, S.
(2003):
Attachment and traumatic Stress in female Holocaust child survivors and their
daughters. American Journal of Psychiatry, 160: 1086–1092.
Sorcher, N., Cohen, L.J. (1997): Trauma in children of
Holocaust survivors: transgenerational effects. American Journal of
Orthopsychiatry, 67(3): 493–500.
Sigal JJ. (1998): Long-term
effects of the Holocaust: Empirical evidence for resilience in the first,
second, and third generation. Psychoanalytic Review, 85: 579–585.
Sigal JJ., Silver D.,
Rakoff V., Ellin B. (1973): Some second-generation effects of survival of the
Nazi persecution. American Journal of Orthopsychiatry, 43: 320–327.
Solomon Z, Kotler M,
Mikulincer M. (1988): Combat-related post-traumatic stress disorder among
second-generation Holocaust survivors: Preliminary findings. American Journal
of Psychiatry, 145: 865–868.
Valent, P. (1994): Child survivors – Adults living with
childhood trauma. Australia: W. Heinemann.
Van IJzendoorn, M.H., Bakermans-Kranenburg, M.J., Sagi, A.
(2003): Are children of Holocaust survivors less well-adapted? No meta-analytic
evidence for secondary traumatization. Journal
of Traumatic Stress, 16: 459–469.
Yehuda, R., Schmeidler, J., Giller, E.G., Siever, L.J.,
Binder-Byrnes, K. (1998): Relationship between posttraumatic stress disorder
characteristics of Holocaust survivors and their adult offspring. American
Journal of Psychiatry, 155(6): 841–844.
Yehuda R, Schmeidler J,
Wainberg M, Binder-Brynes K, Duvdevani T. (1998): Vulnerability to
posttraumatic stress disorder in adult offspring of Holocaust survivors.
American Journal of Psychiatry, 155: 1163–1171.
Zilberfein F. (1996): Children of Holocaust survivors: Separation obstacles, attachments and anxiety. Soc Work Health Care, 23: 3555.
1 In diesem original englischen Text wird der Begriff ‚Child Survivor’ für diejenigen Überlebenden des Holocaust verwendet, die zum Ende des Krieges jünger als 16 Jahre alt waren. Schwerpunkt des Textes sind allerdings die Kinder dieser ‚Child Survivor’, die zwar lange nach Kriegsende geboren wurden, jedoch manchmal auch als zweite Generation der ‚Child Survivor’ bezeichnet werden. (Anmerkung des Übersetzers)